"Nacht der Solidarität" am 29. Januar 2020 in Berlin
3. Februar 2020
Interview mit Prof. Dr. Susanne Gerull
Sprecherin der Fachgruppe Armutsbegriff in der Landesarmutskonferenz Berlin
Susanne, Du bist in Berlin als DIE Expertin zum Thema Wohnungslosigkeit bekannt. Was genau macht Dich zur Expertin in Armutsfragen?
Ich komme aus einem sehr politischen Elternhaus, in dem wir viel über soziale Gerechtigkeit und ähnliche Themen gesprochen haben. Mein Vater war zuletzt in der Wohnungswirtschaft tätig und meine Mutter hat als Sozialarbeiterin mit alten Menschen gearbeitet. Ich selbst habe direkt nach dem Studium der Sozialen Arbeit in der behördlichen Wohnungslosenhilfe angefangen zu arbeiten. Nach 15 Jahren bin ich über eine Promotion zum Thema Prävention von Wohnungsverlusten in die Wissenschaft gewechselt; zunächst als Selbstständige, seit mehr als 11 Jahren nun als Professorin an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Mein Schwerpunkt liegt beim Thema Wohnungslosigkeit. Die enge Vernetzung mit der Praxis sowie Betroffenen gehört unbedingt dazu. Darüber hinaus arbeite ich in mehreren Berliner und überregionalen Gremien zum Thema Armut und/oder Wohnungslosigkeit mit. In der Landesarmutskonferenz Berlin koordiniere ich als Sprecherin die Fachgruppe "Armutsbegriff".
Du hast seit Jahren eine Zählung von obdachlosen Menschen gefordert. Warum?
Die Wohnungsnotfallhilfe, aber auch Betroffenenvertretungen und Wissenschaftler_innen fordern seit Jahren/Jahrzehnten eine aussagekräftige Wohnungsnotfallstatistik. Diese brauchen wir, um anhand valider Daten (und nicht interessengeleiteter Schätzungen oder nicht vergleichbarer Teilerfassungen) eine kurz-, mittel- und langfristige Strategie zur Überwindung von Wohnungslosigkeit zu entwickeln. Das heißt, aus den Daten müssen Taten werden.
Warum tun sich die Verantwortlichen in deutschen Städten und anderswo so schwer beim Thema Obdachlosigkeit? Und warum hat die Umsetzung der geforderten Zählung dann doch so viele Jahre gedauert?
In vielen anderen europäischen Ländern bzw. Metropolen werden seit Jahren Daten zu Wohnungsnotfällen erfasst. Vorbild ist hier unter anderem Finnland – mit nur etwas mehr Einwohner_innen als Berlin! – die bereits seit Mitte der 1980er Jahre die Zahl wohnungsloser Menschen erfassen, daraus (nationale) Strategien entwickeln und diese anhand von konkreten Zielvorgaben wie zur Halbierung der Langzeitwohnungslosigkeit innerhalb von drei Jahren überprüfen.
In Deutschland haben die diversen Bundesregierungen jahrzehntelang auf die Zuständigkeit der Bundesländer verwiesen. Die meisten Bundesländer sind bisher aber nicht tätig geworden und werden nun erst über die beschlossene Bundesstatistik Daten liefern müssen. Nordrhein-Westfalen erfasst das Ausmaß von Wohnungslosigkeit schon seit den 1960er Jahren, andere Bundesländer wie Berlin haben bis zur Einführung von "Hartz IV" wenigstens die Daten der von den Sozialämtern untergebrachter Menschen erhoben. Danach war dann allerdings jahrelang Funkstille. Neben dem Zuständigkeitsgerangel spielt natürlich auch eine Rolle, dass wohnungslose Menschen in Berlin erst in letzter Zeit selbst laut und wahrnehmbar ihre Stimme erheben und die Politik auffordern zu handeln. Die aktuelle Koalition R2G in Berlin hat sich dann als erste Berliner Regierung schon im Koalitionsvertrag verpflichtet, das Ausmaß von Wohnungsnotfällen in Berlin zu erfassen.
Nun warst Du an dem Vorhaben „Nacht der Solidarität“ in der Konzeptphase, bei der konkreten Planung und auch der Umsetzung beteiligt. Was waren die größten Steine, die aus dem Weg zu räumen waren?
Ich habe mit der AG Wohnungsnotfallstatistik im Rahmen der Strategiekonferenz Wohnungslosenhilfe das Grobkonzept entwickelt und später im Beirat bei der Senatsverwaltung für Soziales zur Umsetzung des Konzepts mitgearbeitet. Die Tücke lag wie immer im Detail: Berlin ist viel größer als Paris, wir brauchten doppelt so viele Teams. Viele konkrete Fragen tauchten auf: Wie, wo und von wem werden die Teamleitungen geschult, auf welchen Verhaltenskodex für die Freiwilligen einigen wir uns? Der Kerndatensatz ist prima, aber sollten wir nicht auch erfassen, wer mit Haustieren auf der Straße lebt? Es ist unglaublich, dass das engagierte Projektteam der Senatsverwaltung für Soziales es bis zum 29. Januar geschafft hat, das alles zu stemmen.
Die Nacht der Solidarität liegt jetzt hinter uns, die Medien haben umfangreich berichtet, die Aufmerksamkeit war riesig, nicht zuletzt, weil fast 4000 Freiwillige an der Zählung in Berlins Straßen beteiligt waren. Wie fällt Dein vorläufiges Resümee aus?
Ich bin stolz, dass so viele Freiwillige gewonnen werden konnten und die mir bekannten Rückmeldungen aus den Teams so positiv sind. Die Zahlen kennen wir ja noch nicht, aber ein ganz wichtiger Effekt der Zählung lässt sich schon jetzt erkennen: Da sind Menschen aus ganz unterschiedlichen Kontexten und Milieus miteinander über das Thema Wohnungslosigkeit ins Gespräch gekommen. In den Medien lese ich, was auch meine Studierenden berichtet haben: Sie haben einen anderen Blick auf wohnungslose Menschen und das damit verbundene gesellschaftliche Problem – die Ausgrenzung sozial benachteiligter Menschen – bekommen. Auch bin ich natürlich sehr erleichtert, dass es keine Übergriffe auf Freiwillige gab oder es zu gezielten Störungen der Zählung gekommen ist. Es gab ja im Vorfeld Kritik von beispielsweise einigen Betroffeneninitiativen. Am 30. Januar morgens um 2:00 h konnte das Projektteam jedenfalls notieren: "Vorkommnisse": keine!
Was erhoffst oder erwartest Du von der Zukunft?
Ich erhoffe mir von allen Akteur_innengruppen, dass sie sich aktiv an der Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten beteiligen werden. Von der Politik und den sonstige Verantwortlichen erwarte ich, dass das vorhandene Hilfesystem für auf der Straße lebende Menschen anhand der gewonnenen Erkenntnisse auf den Prüfstand gestellt wird: Wo fehlen Angebote für spezifische Zielgruppen, wo muss ggf. ein existierendes Angebot modifiziert werden? Wie es immer so schön heißt: Daten für Taten! Das wird zumindest MEIN Maßstab sein, um am Ende eine Bilanz zu dieser ersten Zählung wohnungsloser Menschen auf der Straße ziehen zu können.
Was können oder sollten wir uns als Landesarmutskonferenz Berlin diesbezüglich vornehmen? Wo sieht Du unsere Rolle?
Ich wünsche mir eine weiterhin konstruktive und engagierte Begleitung der mit der Zählung angestoßenen Prozesse. Wir haben eine Fachgruppe "Wohnungslose Menschen" mit Expert_innen aus ganz unterschiedlichen Akteur_innengruppen, und meine eigene Fachgruppe "Armutsbegriff" beschäftigt sich ja unter anderem seit Jahren mit der Konzeptionierung und Umsetzung einer integrierten Armuts- und Sozialberichterstattung, wie sie auch R2G im Koalitionsvertrag beschlossen hat. Eine Wohnungsnotfallstatistik muss Teil dieser Berichterstattung sein, um einen ganzheitlichen Blick auf Ursachen und Folgen von Armut werfen zu können und damit eine ressortübergreifende Strategie zur Überwindung von Armutslagen entwickeln zu können.
Das Interview führte Kirstin Wulf.