Martin, Du vertrittst den Arbeitskreis Wohnungsnot. Dieser ist seit Jahren bei uns Mitglied in der Landesarmutskonferenz Berlin. Wer seid und was macht Ihr?
Unser Arbeitskreis Wohnungsnot ist ein klassisches Vernetzungsgremium. Wir bringen die verschiedenen Träger und Einrichtungen der Berliner Wohnungsnotfallhilfe an einen Tisch und versuchen, unabhängig von den großen Wohlfahrtsverbänden und der Politik Lösungen für die Betroffenen zu entwickeln. Manchmal geht es bei unseren Sitzungen einfach nur darum, dass wir uns über den Alltag an den Berliner Jobcentern oder den Sozialen Wohnhilfen austauschen und somit immer wissen, was vor Ort konkret passiert. Und wir sprechen natürlich auch und vor allem über den Alltag und die Anforderungen bei den freien Trägern.
Der Arbeitskreis Wohnungsnot existiert seit über 30 Jahren. 2018 haben wir mit einer großen Aktionswoche unseren 30. Geburtstag gefeiert und gleichzeitig das Thema Wohnungsnot in die breitere Öffentlichkeit transportieren können.
Die Landesarmutskonferenz Berlin hat sich damals mit einem Fachtag beteiligt.
Und wir sind froh um die breite Vernetzung unserer Arbeit, denn Wohnungsnot war vor 30 Jahren ein Thema und ist es heute mehr denn je.
Seit wann bist Du denn im Arbeitskreis aktiv?
Ich bin fast 10 Jahre dabei, seit längerem auch in der sogenannten Vorbereitungsgruppe. Die braucht es, damit wir bestimmte Themen und Aktionen besser planen und umsetzen können. Wir sind ein basisdemokratisches Forum ohne offizielle Sprecher*innen oder allzu feste Verfahrensregeln. Das ermöglicht allen, sich jederzeit einzubringen.
Magst Du noch kurz etwas zu Deinem eignen Hintergrund erzählen?
Seit 2008 arbeite ich in der Berliner Wohnungslosenhilfe. Seit Ende letzten Jahres studiere ich Urbane Zukunft (MA) an der Fachhochschule Potsdam und leite gleichzeitig die Kältehilfe-Notunterkunft der Caritas in der Residenzstraße. Wirkliche Langeweile hatte ich in den letzten Monaten daher nicht. Allerdings sollten die Monate März und April dem Erholen dienen ...
Du meinst, bis Corona kam?
Ja, leider. Eigentlich fing das Jahr sehr vielversprechend an. Mit der Nacht der Solidarität im Januar 2020 gab es einen wirklichen Meilenstein in der Entwicklung der Wohnungslosenhilfe in Berlin. Zum ersten Mal haben wir einen wirklichen Anhaltspunkt über das Ausmaß der Obdachlosigkeit in der Stadt erhalten. Und im Laufe des Jahres sollte die erste Gesamt-Statistik – für Berlin und bald auch im Bund – aufgelegt werden. Genau Zahlen fordern wir seit Jahren ...
... und wir ebenso!
Es zeigte sich aber schnell, dass die Corona-Krise auch uns mit voller Härte treffen wird. Ich hatte den Eindruck, dass es zunächst eine absolute Überforderung und teilweise Schockstarre in der Stadt gab. Die Träger und Verbände brauchten einige Tage, um sich zu orientieren und Strategien zu entwickeln. Auch die Senatsverwaltung für Soziales war aus meiner Sicht zunächst kaum zu vernehmen. Aber das ist meine Einschätzung. Bei mir kam sehr wenig an.
Was meinst Du?
Teilweise fühlten wir uns an der Basis alleingelassen. Ich spreche hier als Vertreter einer Notunterkunft für Obdachlose. Wir wurden irgendwann aufgefordert, mit dem Gesundheitsamt zu klären, ob unser Angebot offenbleiben kann. Unser Gesundheitsamt stufte den Schutz für die Obdachlosen höher als den Infektionsschutz ein. Wir blieben geöffnet und versuchen seitdem, mit den minimalen Bordmitteln, der Situation gerecht zu werden.
Was meinst Du mit dem Schutz genau?
Nicht, dass Du mich falsch verstehst: Infektionsschutz ist gleichzeitig ein Schutz für die Obdachlosen. Aber es geht um unser Angebot für die Obdachlosen. Wer die Kältehilfe kennt, weiß aber, wie schwer der Job ist. Meine Mitarbeiter*innen nehmen das Risiko einer Ansteckung voll auf sich. Versuche mal einem stark alkoholisierten Menschen, der kein Deutsch spricht, zu erklären, was Social Distancing ist … Ich habe einen ungeheuren Respekt vor der Leistung meiner Kolleg*innen, aller Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. Mittlerweile habe ich aber große Zweifel, ob das bisherige Konzept der Kältehilfe dieser Pandemie gerecht werden kann.
Das können wir uns von außen nur vorstellen!
Im Rahmen des AK Wohnungsnot haben wir uns gegen Mitte März entschieden mehr zu tun. Daher starteten wir eine Petition, um alle Obdachlosen für die Zeit der Krise in Hotels unterbringen zu können. Viele Hotels mussten ihren Betrieb einstellen, die Räume bleiben vielfach ungenutzt. Wir haben unsere Forderung der Senatsverwaltung für Soziales übergeben. Eine Antwort ist noch nicht gekommen. Das nun eröffnete Hostel als Ganztagsangebot zeigt uns aber, dass Sozialsenatorin Elke Breitenbach das Thema ernst nimmt und Angebote schaffen will. Wenn Du mich fragst, zweifle ich jedoch am Umfang des Angebotes. Ich habe die Sorge, dass die klassischen Unterkünfte der Kältehilfe die Verbreitung des Virus beschleunigen können. Bisher wurden auch keine Tests in den Einrichtungen durchgeführt. Ich hoffe, dass wir hier noch gemeinsam nachsteuern können. Dafür sind wir ja da: Missstände aus der Praxis zu benennen und an Lösungen zum Wohle derer, die uns gerade jetzt brauchen, mitzuwirken!
Und wie geht es weiter?
Wir müssen alles tun, um die Schwächsten vor dem Virus zu schützen. Ob wir in der kommenden Wirtschaftskrise noch die Zeit und Ressourcen für die Ärmsten in der Bevölkerung haben werden, weiß ich nicht. Krisen sind immer Chancen. Aber diese Chancen gilt es auch zu nutzen! Voraussetzung von unserer Seite ist, die Vernetzung zu verstärken und nicht zu verstummen. Wir müssen uns, aber auch den betroffenen wohnungslosen Menschen mit ihren eigenen Forderungen, Gehör verschaffen und den Wohlfahrtsverbänden und der Politik weiter auf die Füße treten oder unter die Arme greifen.
Martin, ich wünsche Euch ganz viel Kraft, Erfolg und vor allem gute Gesundheit in den kommenden Wochen!
Kirstin Wulf