Hallo Claudia, Du bist schon seit vielen Jahren für die Landesarmutskonferenz Berlin in der Fachgruppe Kinderarmut und Familien unterwegs. Sonst arbeitest Du bei der Berliner Stadtmission und hast da ganz viele Aufgaben ...
... ja, das stimmt! Ich koordiniere als Leiterin verschiedene Projekte der gemeinwesenorientierten Arbeit mit Kindern und Familien, die meisten sind über Spenden finanziert. Jedes Projekt hat eigene Schwerpunkte, die sich aber alle an den Bedürfnissen der Kinder und Familien ausrichten. Ein Schwerpunkt bei mir ist die Arbeit mit Mädchen im Teenager-Alter. Dazu bieten wir an einem weiteren Standort für Kinder und Jugendlichen gezielte Hausaufgaben-Hilfe an. In allen Projekten geht es um kontinuierliche und damit verlässliche Beziehungsarbeit von der Grundschule bis zum Studium oder zur Berufsausbildung.
Was heißt das konkret?
Beziehungsarbeit ist das, was meist zwischendurch stattfindet. Die Zwischentöne, die kleinen Gespräche, die Umarmungen. Mir macht meine Arbeit super viel Spaß. Wenn es zum Beispiel um die Mädchen und jungen Frauen geht, dann können diese nicht immer gleich und offen zeigen, wie sehr sie manchmal echte Hilfe brauchen. Manchmal müssen wir intensiv hinfühlen, um zu merken, wie sehr sie für unsere Unterstützung dankbar sind. Aber das tun wir: Wir beobachten und registrieren genau, wenn es Fortschritte in der Schule oder mit Freunden gibt. Oder umgekehrt, wenn etwas nicht stimmt. Beides ist sehr wichtig und im Leben dieser jungen Menschen keine Selbstverständlichkeit.
Corona führt gerade dazu, dass viele Angebote für Kinder- und Jugendliche schließen mussten. Auch bei Dir beschränkt sich die Arbeit jetzt darauf, von zu Hause aus wenigstens mit einigen Kindern Kontakt zu halten. Wie kommuniziert Ihr und was bekommst Du mit?
Wir telefonieren oder schreiben uns. Die gute Nachricht: Wir werden vermisst! Ihnen fehlen unsere Angebote – manchmal auch die Schule, um Freunde zu treffen. Ihnen fehlen Gespräche, das gemeinsame Zusammensein und auch Unterstützung. Das Zusammensein mit Gleichaltrigen oder Gleichgesinnten ist natürlich für alle Kinder wichtig. Unter der Corona-Isolation leiden deswegen Kinder besonders stark. Sie müssen viel mehr Zeit mit Eltern und Geschwistern verbringen. Sie dürfen sich nicht richtig draußen aufhalten, sich bewegen und sie stehen unter Beobachtung. Manchen fällt es leichter, bei anderen hört sich das nicht so gut an ...
Du meinst, es ist nicht immer nur ne Frage von fehlenden Beschäftigungsideen und Langweile?
Nein, ganz und gar nicht. Ich habe in den letzten Tagen viel auch mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Einrichtungen gesprochen. Wir alle machen die gleichen Beobachtungen und warnen davor, das, was sich dort in allen Bezirken abspielt, unbeachtet zu lassen. Unsere Arbeit ist wichtig, und wenn sie nicht stattfinden kann, geht das zu Lasten der Kinder und Familien, die eh schon wenig Chancen haben.
Welche Gefahren siehst Du – seht Ihr – wenn auch in den kommenden Wochen die Angebote für Kinder und Familien fehlen?
Das ist leider eine ganz lange Liste an Befürchtungen, die ich habe. Ich fange mal an:
Kinder aus Familien, die Hilfe für Hausaufgaben benötigen, laufen Gefahr, derzeit noch weiter abgehängt zu werden. Denn wer hilft ihnen in diesen Wochen? Wer schaut über ihre Schulter, fragt und hakt nach und nimmt gemeinsam mit ihnen die Hürden, wenn sie mal wieder völlig überfordert sind, weil sie etwas nicht verstanden haben? Das genau ist auch Teil unserer Arbeit. Wenn Hausaufgaben von den Lehrkräften nur per Mail nach Hause flattern, trauen sich gerade diese Kinder nicht immer nachzufragen. Da ist auch ne Menge Scham im Spiel. Hinzu kommt, nicht alle haben einen Computer oder unbegrenzten Zugang zum Internet zu Hause (um wiederum auch mit Freunden zu spielen und den Kontakt wenigstens auf diesem Wege zu halten). Bezogen aber auf die Hausaufgaben, ersetzt das Smartphone keinen Computer.
Apropos: Kinder und Jugendliche, die wenig lesen, werden trotz der vielen Zeit zu Hause, nicht mehr lesen. Anders als andere mit Eltern, die hier genau hinschauen, ist in vielen Familien, mit denen wir es zu tun haben, die Versuchung recht groß, sich mit Computerspielen die Zeit zu vertreiben und alles andere zu vergessen.
Kinder mit wenig Freunden bekommen jetzt nicht automatisch mehr Freunde und fühlen sich alleine. Das soziale Lernen außerhalb der Schule wird gebremst und nicht selten der familiäre Stress erhöht. Das erzählen vor allem unsere Mädchen. Ohne die Treffpunkte vermissen sie uns als Ansprechpartnerinnen, denen sie fast nebenbei wichtige Dinge anvertrauen.
Nochmal: Wenn Kontakte, Hilfen und materielle Ausstattungen in Familien fehlen, dann befürchte ich, dass abgehängte Kinder noch mehr abgehängt werden. Angebote der außerschulischen Bildung fallen für diese Gruppe gerade total weg. Ich kenne Jugendliche, die eine Berufsschule besuchen und keine Hausaufgaben bekommen haben.
Das alles macht mich sehr traurig und betroffen. Und wir sollten alle Anstrengungen unternehmen, dass unsere Angebote unbedingt wieder aufgenommen werden, sobald dies möglich ist. Eigentlich brauchen wir dann eine Aufstockung, damit wir die Zeit, das Personal und die Ressourcen haben, die entstandenen Lücken wenigstens etwas schließen zu können.
Das hört sich nicht gut an!
Nein, das stimmt. Ich versuche Kinder und Familien regelmäßig zu schreiben oder anzurufen. Ich frage nach, wie es ihnen geht, verbreite Neuigkeiten über Unterstützungsmöglichkeiten, von denen ich höre.
Lass mich zum Schluss noch was Positives sagen: Ich höre von Großfamilien, die es zulassen, dass ihre Kinder bis spät in die Nacht zusammen spielen. Wenn der Druck des täglichen Aufstehens wegfällt, entsteht hier wieder mehr Zusammenhalt. Andere Teenager erzählen mir, dass sie ihre Mütter nun mehr unterstützen, beim Einkaufen, im Haushalt, mit den Geschwistern. Toll ist es ja immer, egal wo, wenn es Familien gelingt, sich auch in diesen Zeiten ganz neu kennenzulernen.
Claudia, ich danke Dir! Und viel Erfolg weiter für Dich und Euch. Wichtig ist, dass wir auch an dieser Stelle nicht wegschauen, sondern die Gefahren und Herausforderungen benennen. Denn nur so haben wir die Chance, negativen Entwicklungen entgegensteuern zu können, oder?
Genau!
Kirstin Wulf