Frau Dr. Lüke, Sie sind seit Anfang 2019 Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes Stadtmitte (DWS). Uns verbindet nicht nur die Mitgliedschaft des DWS innerhalb der Landesarmutskonferenz Berlin. Sie unterstützen unsere Arbeit darüber hinaus mit vielen weiteren Ressourcen.
Durch die Landesarmutskonferenz hat der Sozialstaat in Berlin eine dauerhafte und laute Stimme bekommen. Darüber sind wir sehr froh, denn diese Allianz ist für uns essentiell. Gemeinsam mit den anderen Mitgliedern können wir uns für all jene stark machen, die in unserer Gesellschaft zu wenig Gehör finden.
Unter dem Dach des DWS ist eine Vielzahl an Projekten mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten zu finden. Wofür steht die Diakonie Stadtmitte?
Wir sehen uns als Anwältinnen und Anwälte der Menschenwürde. Das verdeutlichen unsere sechs Hauptaufgaben, die in den fast 25 Jahren unserer Tätigkeit immer weiter gewachsen sind: Kind und Familie, Pflege, Bekämpfung von Wohnungslosigkeit, Integration und Migration, Suchthilfe und Beratung. Unsere Unterstützung und unsere Leistungen sind für alle Menschen da, gleich welcher Herkunft. Mit Mut, Innovationsgeist, Improvisationsfähigkeiten und Gottvertrauen haben unsere Mitarbeitenden viele Projekte auf den Weg gebracht und verstetigt.
Können Sie kurz etwas zu Ihrem beruflichen Hintergrund sagen? Was hat Sie zur Diakonie Stadtmitte gebracht?
Ich bin Juristin, mein Thema waren seit je her die Menschenrechte, zunächst international in Großbritannien, für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in Afrika und Asien und für Amnesty International, anschließend auch in Berlin als Integrationsbeauftragte des Berliner Senats. Was mich bei meiner Arbeit als Geschäftsführerin des Diakonischen Werks Berlin Stadtmitte derzeit antreibt, ist, dass wir mit unseren Projekten ganz konkret einen Beitrag zur Umsetzung der Ziele des Sozialstaats leisten können. Wir stärken demokratische Grundrechte und schaffen Voraussetzungen für einen guten gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das geht vom kleinen Projekt im Stadtteil bis zu größeren Initiativen, die ihre Wirkung auch über Berlin hinaus entfalten können.
Die Corona-Krise verlangt Ihnen derzeit vermutlich alles ab. Was sind Ihre größten Herausforderungen?
Wer vorher schon sozial benachteiligt war, hat jetzt noch weniger Chancen: Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht oder bereits wohnungslos sind; Suchtkranke oder -gefährdete und Flüchtlinge. Ein Beispiel: die Unterstützung von suchtkranken Menschen bei der Integration in den Arbeitsmarkt ist wichtig, damit sie wieder Fuß fassen können. Seit Anfang April wurden alle Maßnahmen auf Anweisung der Bundesagentur für Arbeit angehalten. Diese Menschen dürfen noch nicht einmal mehr den Kirchhof fegen. Auch die Begleitung und Beratung durch die Kolleginnen des Diakonischen Werks Berlin Stadtmitte wird nicht mehr finanziert. Wenn die Kolleginnen nicht dennoch und ohne Finanzierung weiter berieten und unterstützten, stünden viele Suchtkranke ohne Halt da. Es besteht die akute Gefahr der Rückfälligkeit.
Wie könnte da gegensteuert werden?
Wenn die Regierenden den Sozialstaat jetzt nicht sehr ernst nehmen und weiter Fürsorge für die Menschen am Rande der Gesellschaft betreiben, retten wir zwar hoffentlich zahlreiche Menschen vor der Corona-Gefahr, verlieren aber zugleich unzählige Andere. Wir dürfen nicht nur diejenigen als Heldinnen und Helden feiern, die Gesundheit, Pflege und Nahrungsmittelversorgung aufrechterhalten, sondern wir müssen das Sozialstaatsprinzip großschreiben und uns auch um die Menschen kümmern, die Fürsorge, Beratung oder andere Hilfen benötigen. Sie haben die gleiche Menschenwürde wie wir alle. Das sagt klar der 1. Artikel des Grundgesetzes. Für uns als Mitarbeitende in der Diakonie ist es zudem ein unverzichtbarer Bestandteil der christlichen Nächstenliebe.
Denken Sie schon an die Zeit nach Corona? Wie wird sich die Welt verändert haben?
Wir werden den Sozialstaat mehr brauchen als je zuvor. Bereits heute ist klar, dass sich die soziale Schere immer weiter öffnet. Der Sozialstaat und die Angebote der Diakonie und anderer sozialer Dienstleister werden jetzt umso nötiger gebraucht – jetzt und dann, wenn die Pandemie irgendwann unter Kontrolle ist.
Worüber sollten wir bereits heute nachdenken oder diskutieren, damit wir die Weichen rechtzeitig für die Neu- oder Umgestaltung stellen?
Die Bedeutung sozialer Arbeit darf nicht zugunsten der Herkulesaufgabe, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, in den Hintergrund treten. Die Bezeichnung „Held*in des Alltags“ ist gut, aber nicht ausreichend. Gerade wenn wir unser Alltagsleben wieder aufnehmen können, werden soziale Beratung, Unterstützung von Familien in Not, Kitas, Suchtberatung etc. in einem starken Maße gefragt. Das bringt zugleich Chancen mit sich: Wir brauchen einen neuen gesellschaftlichen Sozialvertrag: die Anerkennung des sozialen Sektors muss zu einer besseren Bezahlung derjenigen führen, diesem Sektor arbeiten. Zugleich muss die Finanzierung der Institutionen der freien Wohlfahrtspflege sicherer werden. Jährliche Zuwendungen, die immer kleinteiliger abgerechnet werden, sind da nicht der richtige Weg. Stattdessen sollte in größerem Rahmen über Regelfinanzierungen nachgedacht werden. Eine der größten Herausforderungen wird sein, in diesem neuen Sozialvertrag auch ökologische Elemente angemessen zu berücksichtigen. Das ist aber unverzichtbar.
Frau Dr. Lüke, haben Sie herzlichen Dank!
Kirstin Wulf